Wenn Homeschooling zur Zerreißprobe wird

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Mein Dank für die substanzielle Unterstützung für diesen Beitrag geht an Lisa Römer.

Am 12. März ergriff auch das letzte Bundesland die Maßnahme der Schulschließung. Ab Montag, dem 16. März hieß es für rund 11 Millionen Schülerinnen und Schüler: Homeschooling. Doch nicht nur für die Kinder änderte sich schlagartig alles in ihrem gewohnten Leben, sondern auch für die Eltern und Lehrer. Viele Arbeitgeber schickten ihre Arbeitnehmer so schnell wie möglich ins Homeoffice, Lehrer standen plötzlich vor der Herausforderung „aus analog mach digital!“.

Betroffen waren – und sind – drei unterschiedliche Gruppen mit nun drei großen Fragezeichen auf der Stirn. Ein Enddatum für diese Ausnahmesituation war zunächst nicht in Sicht. Viele Familien mussten sich von heute auf morgen neu strukturieren, Tagesabläufe umplanen, etc. Die Verantwortung dafür liegt hierfür bei den Eltern. Doch auch die Kinder fallen aus ihrem gewohnten Rhythmus. Erschwerend kommt für sie hinzu, plötzlich auch nicht einmal mehr mit anderen Kindern spielen zu dürfen – von jetzt auf gleich sind sie weitestgehend abgeschnitten vom gewohnten sozialen Leben. Und zu guter Letzt werden die Lehrer damit konfrontiert, ihren für den Präsenzunterricht konzipierten Lernstoff in kurzer Zeit in ein digitales Format transferieren müssen.

Externe Rahmenbedingungen, die nur in einem geringen Maße beeinflussbar sind, zerren schnell am eigenen Nervenkostüm. Diese Dreieckssituation einmal genauer betrachtet, ergeben sich drei sehr unterschiedliche gegenseitige Perspektiven, die von allen Beteiligten ein Höchstmaß an eigener Flexibilität einfordern. Der Wunsch aller, die von außen an sie herangetragenen Erwartungshaltungen bestmöglich zu erfüllen, üben einen enormen Druck aus und stellen die Personen in dieser fragilen Dreier-Konstellation auf eine harte Probe.

Die Menschen in diesen drei Rollen sehen sich der Herausforderung gegenüber, offensichtliche und weniger offensichtliche Interessen- und Zielkonflikte irgendwie zu meistern. Denn es kommt zu einer Verschiebung der Verantwortung. Übernimmt ursprünglich die Lehrkraft, wie meistens, die Verantwortung für die Bildung des Kindes vor Ort in der Schule, so geht nun ein Teil dieser Verantwortung auf die Eltern über. In wieweit dies für die betroffenen Eltern darstellbar und machbar ist, müsste strenggenommen für jede Familie einzeln bewertet werden. Denn für die Eltern wiederum steigt, zusätzlich zur Verpflichtung der eigentlichen Kindererziehung, nun noch die Erwartung, dem eigenen Kind schulische Lerninhalte zu vermitteln – einer vollwertigen Lehrkraft entsprechend. Eine Erwartung von Schule und Lehrer an die Eltern, gegebenenfalls vom Kind an die Eltern, und meistens auch von den Eltern an sich selbst.

Die Perspektive des Kindes

Von heute auf morgen fehlt jegliche Interaktion mit anderen Menschen außerhalb des eigenen Haushalts, insbesondere mit Gleichaltrigen. Plötzlich sind alle zu Hause, obwohl die Gewohnheit ist, dass mindestens ein Elternteil, wenn nicht sogar beide Elternteile, mit dem Kind morgens das Haus verlassen, wenn es in die Schule geht. Mit dem Nachbarskind darf nicht mehr gespielt werden. Jetzt wollen auch noch Mama oder Papa schulische Inhalte erklären. Während Schule und Elternhaus für gewöhnlich zwei weitestgehend separate soziale Räume sind, verwischt diese Grenze nun. Schüler, die sonst meist nur mit der inhaltlichen Erwartungshaltung des Lehrers konfrontiert waren, müssen sich plötzlich auch gegenüber den Eltern rechtfertigen, wo früher meist nur die Mitteilung einer Note genügte. Gleichzeitig fällt die Schule als Ort sozialen Lernens weg. Man ist weitestgehend auf sich allein gestellt und kann weniger von Hinweisen des Lehrers oder der Klassenkameraden profitieren. Jeden Tag müssen Aufgaben gemacht werden, auch wenn die Schule geschlossen ist. Nicht selten lässt diese Situation Kinder orientierungslos zurück. Gleichzeitig ist das Freizeitrepertoire zu Hause bald erschöpft und Langeweile kommt auf.

Die Perspektive der Eltern

Viele Arbeitgeber haben zum Erhalt der Arbeitskraft ihre Beschäftigten ins Homeoffice geschickt. Häufig mit der Erwartungshaltung, dass der jeweilige Arbeitnehmer zuhause mindestens genauso produktiv ist, wenn nicht sogar noch effizienter arbeitet, als sonst im Büro. Bei Eltern ist dies eher eine illusorische Vorstellung. Ein Arbeitnehmer kann oft nicht die gleiche Produktivität erbringen, die er im Büro hat, wenn er gleichzeitig sein eigenes Kind versorgen, unterrichten und beschäftigen soll. Wo bis zur Coronakrise diese Aspekte meist losgelöst voneinander stattfanden, müssen diese nun zeitgleich aber vor allem auch räumlich, den ganzen Tag über in Einklang miteinander gebracht werden. Die emotionale Last auf jedes einzelne Familienmitglied steigt, nicht nur weil Aufgaben neu verteilt werden müssen, sondern auch in der ungewohnten Situation ein Stück normaler Familienalltag entstehen muss. Viele Eltern werden zusätzlich inhaltlich vor enorme Schwierigkeiten gestellt. Sie müssen plötzlich als fachlicher Ansprechpartner in Fragen dienen, die sonst von inhaltlich wie pädagogisch besonders ausgebildeten Lehrkräften beantwortet werden. Nicht wenige Eltern lernen plötzlich noch einmal mit ihren Kindern mit – und bekommen vielleicht ein neues Gefühl dafür, was diese tagtäglich leisten. Auch Eltern sind in dieser Situation mit besonderen Erwartungen seitens ihrer eigenen Kinder konfrontiert.

Die Perspektive der Lehrer

Digitale Lernformen zählen nicht unbedingt zu den Dingen, die einer Lehrkraft in einer Grundschule oder einer weiterführenden Schule sofort mit an die Hand gegeben werden. Vieles muss sich selbst erarbeitet werden. Unterstützungsangebote sind oft Mangelware oder können im normalen Betrieb kaum neben dem normalen Schuldienst wahrgenommen werden. Gleichzeitig sieht sich die Lehrkraft der Herausforderung ausgesetzt, die eigenen Bildungsangebote stetig veränderten Bedingungen anzupassen. Nicht selten entstehen somit weitere Zielkonflikte zwischen dem Erfüllen der Anforderungen des jeweiligen Bildungsministeriums und den Erwartungen der eigenen Schule, aber auch den Erwartungen, die Eltern an eine Lehrkraft persönlich und an die schulische Bildung ihrer Kinder haben. Rechtliche und organisatorische Hindernisse kommen erschwerend hinzu, denn selbst wenn die Lehrkraft größtmögliche Flexibilität zeigt, kommt sie doch schnell an die Grenzen dessen, was unter den äußeren Bedingungen des Schulbetriebs möglich ist. All dem gilt es gleichermaßen gerecht zu werden. Dies führt letztlich zu einer hohen emotionalen Belastung, und Stress ist vorprogrammiert.

Neben diesen drei Perspektiven bestehen weitere externe Umwelt- bzw. Rahmenbedingungen, die den Zielkonflikt in dieser Dreier-Konstellation verstärken. Diese Pandemie und die angeordneten Maßnahmen kamen so schnell, dass schlichtweg die Chance auf eine angemessene Vorbereitung fehlte. Hier war und ist von allen Beteiligten Improvisationsfähigkeit gefordert. Insbesondere viele Schulen waren und sind bis heute technisch nicht ausreichend ausgestattet, um ad hoc alle Lerninhalte auch digital vermitteln zu können. Zum einen verließ man sich auf die Fähigkeiten der Lehrkräfte. Zum anderen waren die Anforderungen an digitales Lernen bis dato kaum konkretisiert. Welches Wissen benötigt eine Lehrkraft, welche digitalen Tools müssen beherrscht werden, um im Sinne des Bildungsauftrages, stellvertretend für die jeweilige Schule, lehren zu können? Müssen nicht sogar Lehrmittel neu ge- und durchdacht werden, wenn die Kompetenzvermittlung zu einem erheblichen Teil auf Distanz stattfindet? Auch hier gibt es bis heute keine einheitliche Vorgabe, und Lehrkräfte werden viel zu oft allein gelassen, wenn es darum geht, im Bereich der Digitalisierung voran zu gehen.

Vermutlich hat sich kaum ein Elternteil erträumt, einmal das eigene Kind zu Hause mit vorgegebenen Inhalten unterrichten zu müssen. Der Druck ist enorm. Als Mutter oder Vater, im Homeoffice arbeitend, möchte und muss man nicht nur seinem Kind und seiner Familie, sondern gleichzeitig auch den Erwartungen seines Arbeitgebers gerecht werden und kann nur hoffen, dass am Ende überall ein akzeptables Ergebnis zustande kommt.

Wie können wir besser werden

Krisen bieten auch immer Chancen, das gilt im Fall der Corona-Pandemie insbesondere für uns als Gesellschaft. Welche Lehren sollten wir also daraus ziehen? In vielerlei Hinsicht haben wir kulturell und technologisch eine Entwicklungsstufe erreicht, die es uns möglich macht, bildungspolitisch mit diesen Herausforderungen umzugehen.

Damit das möglich ist, ist es erforderlich Grundwissen über „Lernen auf Entfernung“ allen drei Interessengruppen zu vermitteln: Lehrer müssen wissen, wie sie den digitalen Anteil ihres Lehrangebotes in angemessener Zeit erhöhen können. Schulklassen so zu betreuen, kann auch im üblichen Alltag trainiert werden. Schüler müssen darauf vorbereitet werden, ihren Lernalltag mit Hilfe digitaler Plattformen zu bestreiten, und Eltern brauchen einen Notfallplan oder ein Handbuch, wie sie ihre Kinder bei diesem Lernen unterstützen können.

Neben diesen weichen Faktoren, die eher didaktischer Natur sind, muss zwingend auch die Verfügbarkeit einer technischen Infrastruktur aufgebaut und gewährleistet werden. Die flexible Nutzung digitaler Angebote ist nur dann möglich, wenn seitens der öffentlichen Stellen die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden. Das betrifft zuallererst die Netzanbindung der Schulen an das Internet. Diese ist lediglich die elementare Grundvoraussetzung dafür, dass digitale Lerninhalte überhaupt angeboten werden können. Ebenso müssen Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, auch außerhalb der Schule mit angemessener Netzabdeckung, Bandbreite und Geräteausstattung auf die Angebote zugreifen zu können. Während ersteres inzwischen allgemeiner Konsens ist, fällt bereits der zweite Teil häufig aus der Betrachtung. Dabei bilden beide nur eine Voraussetzung für erfolgreichen digitalen Unterricht. Mindestens genauso wichtig ist es in der Folge dann, dass die Lehrkräfte mit Qualifizierungsmaßnahmen zur digitalen Wissensvermittlung versorgt werden. Vielfach bleiben diese derzeit nämlich noch auf sich allein gestellt. Von einem funktionierenden Internetanschluss allein wird der Unterricht noch lange nicht digital.

Zudem bedarf es einer sicheren und datenschutzkonformen Plattform, die für Lehrer und Schüler auch weitestgehend barrierefrei nutzbar ist und ein breites Repertoire an Werkzeugen an zentraler Stelle bietet. Nur so kann einer Zerfaserung des Unterrichts über diverse Angebote und Programme hinweg entgegen gewirkt werden. Auch muss diese Plattform mehr sein, als die Möglichkeit Textaufgaben einzustellen und abzurufen. Sie muss den Lehrkräften die Möglichkeit geben, ihren Unterricht online genauso kreativ zu gestalten, wie den gewöhnlichen Präsenzunterricht. Nur so lassen sich Schüler (und Lehrkräfte!) hinreichend motivieren, entsprechende Angebote zu nutzen und kompetenzfördernd einzusetzen. Gleichwohl dürfen die Lehrkräfte nicht zu Supportmitarbeitern werden, indem sie Anwenderhilfen geben oder Fehler der Plattform beheben. Vielmehr müssen diese sich auf ihre Kernkompetenz konzentrieren können. Für das Funktionieren der Technik wird eigenes, ebenso qualifiziertes Personal benötigt.

Wenn wir anfangen, uns der heutigen Möglichkeiten besser bewusst zu werden und uns darauf einlassen, sie auch zu nutzen, werden wir als Gesellschaft nicht nur widerstandsfähiger. Nein, dann entlasten wir – nicht nur in Krisenzeiten – den Bildungsbetrieb von Stress und unklaren Erwartungen und schaffen Rahmenbedingungen, die für alle Beteiligten Bildung und Wissensvermittlung deutlich einfacher macht. Begreifen wir die jetzige Situation als Chance, Bildung in Zeiten des digitalen Wandels auf ein solides Fundament zu stellen, dann werden wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.

von Sebastian Alscher